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Gedankenspiele

Aufstieg

Du hast mich früher immer auf deine Wanderungen mitgenommen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich leichtfüßig die steilen Hänge rauf und runter gelaufen bin. Du kamst mir nach, etwas langsamer, mit deinem schweren Rucksack auf dem Rücken, immer darauf bedacht, mich nicht aus den Augen zu verlieren.
Ich habe es geliebt. Alles daran.
Unsere Brotzeit auf dem Weg zum Ziel, die dicke Scheibe Brot mit einem großen Stück Salami, dazu ein Ei und etwas Gurke. Den großen Wanderstock, den ich jedes Mal auf dem Weg fand und jedes Mal zum Schönsten meiner bisher gefundenen Stöcke ernannte: “Das ist der schönste Stock, den ich je gefunden hab! Den nehm ich ab jetzt immer mit und werd ihn nie vergessen!”
Ich war aufmerktsam, bewunderte die Natur und genoss es, so schweigend neben dir her zu laufen.
Wir haben nie viel geredet, aber manchmal hast du mir Geschichten über die Berge erzählt. Alte Märchen über Könige und Götter.
Ich lauschte gespannt deinen Worten, während ich versuchte mir die Welt von damals auszumalen. Manchmal stellte ich mir dann vor, ich selbst wäre ein alter Bergbewohner und schlich auf Zehenspitzen durch den Wald, auf der Jagd nach Beute oder sammelte Beeren und Zweige.
Einmal entdeckte ich ein paar Steinböcke und wir hockten und vorsichtig auf einen Fels und beobachteten die Herde bis es anfing zu dämmern und wir weiter mussten, um noch vor Sonnenuntergang die Hütte zu erreichen.
Abends gab es dann eine deftige warme Mahlzeit, eine große Apfelschorle für mich und ein großes Bier für dich, in einer urigen, schwach beleuchteten Stube mit karierten Vorhängen und massiven Holztischen.
Ich war jedes Mal so stolz, dass ich mit dir mitkommen durfte!
Stolz, weil die anderen Wanderer mich lobten: “So ein junges Mädchen und doch schon so fit am Bergsteigen!”
Wir grinsten uns dann an, stolz auf uns beide.
An einem Abend brachtest du mir Schafkopf bei und wir spielten im Team gegen zwei Fremde den ganzen Abend Karten. Irgendwann holte so ein schmächtiger Junger Mann seine Gitarre raus und kurz darauf sangen alle gemeinsam “Country Roads”. Am liebsten wäre ich die ganze Nacht in dieser kleinen Stube geblieben und hätte mit den Leuten und dir gesungen.
Heute bin ich wieder hier.
Nicht genau da, wo wir so oft waren.
Irgendwo anders. In den Bergen.
Ich bin älter geworden. Habe mir mein eigenes Ziel gesteckt.
Ich bin nervös, oder aufgeregt. Wohl beides.
Vielleicht hab ich auch ein klein wenig Angst.
Ganz allein da hoch, für mehrere Tage, das hab ich ewig nicht gemacht. Zuletzt mit dir.
Aber es fehlt mir.
Die Anstrengung während des Aufstiegs, das Gefühl, es geht nicht mehr. Keinen Schritt kann ich mehr tun.
Dann plötzlich, die unendliche Weite im Rücken, der Ausblick ist atemberaubend. Vor mir schroffe Felshänge, satte Bergwiesen und der schmale Pfad Richtung Ziel. Ernüchternd steh ich da, kann die Schönheit der Natur kaum fassen.
In diesem Moment liegen sie direkt vor mir. So wunderschön und von einer ohrenbetäubenden Stille umgeben. Die Alpen.
Es geht los. Heute beginne ich meine erste Wanderung, ganz allein. Ich weiß nicht so recht, was mich erwartet, was ich erwarten kann, aber ich fühle, dass es gut wird.
Anders, bestimmt. Ohne dich.
Ich bin bereit.

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